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Mitte der 60er Jahre entstand in New York die Idee für eine Zeitschrift mit dem Titel Avant Garde. Es sollte »ein intelligentes, fröhliches Kunst- und Politikmagazin werden, für Leute, die ihrer Zeit voraus sind« (O-Ton Avant Garde Magazine).
Die Herausgeber Ralph Ginzburg und Herb Lubalin entwickelten die visuelle Sprache der Zeitschrift. »Es war eine schwierige Zusammenarbeit« erinnert sich Ginzburg. »Sein (Lubalins) erster Logo-Entwurf war in Hebräisch. Er dachte das sei lustig. Dann machte er im Coca-Cola-Stil weiter. Wir sind ein Dutzend Entwürfe durchgegangen, alle meisterhaft ausgeführt. Aber keines überzeugte uns.«

Der New Yorker Designer und Schriftgestalter Herbert F. Lubalin (1918 – 1981; Foto © 1979 The American Institute of Graphic Arts)

Eines Tages suchten Ginzburg und seine Frau Shoshana den ratlosen Herb Lubalin in seinem Büro auf. Sie erläuterten ihm noch einmal das Konzept der geplanten Publikation. »Ich bat ihn, sich einen modernen europäischen Flughafen vorzustellen.« erinnert sich Shoshana Ginzburg. »›Denk’ an ein Düsenflugzeug, das die Startbahn verlässt und in die Zukunft fliegt.‹ Mit meiner Hand beschrieb ich die Flugbahn als eine aufsteigende Diagonale. Er ließ mich das ein paar Mal wiederholen. Ich erklärte ihm, dass die bisherigen Logos zu vielen Magazinen passen könnten, aber Avant Garde sollte etwas bekommen, was noch niemand zuvor gesehen habe: einzigartig und völlig neu.«

Ausgabe 8 der Zeitschrift Avant Garde mit einem typografischen Titel (1969)

Als Herb Lubalin am nächsten Morgen von seinem Wohnort Woodmere (New York) zur Arbeit fuhr, lenkte er plötzlich den Wagen an den Straßenrand. Von einer Telefonzelle aus rief er Ralph Ginzburg an, was er noch nie zuvor getan hatte: »Ralph, ich hab die Lösung. Du wirst es sehen.« Der Rest ist Designgeschichte.
Lubalins Startpunkt waren Großbuchstaben der Stilrichtung Geometrische Groteskschrift (in den USA »Gothic)« genannt, irgendwas zwischen Futura und Helvetica. Er verwinkelte die beiden As und das V so, dass sie sich wie Kuchenstücke nahtlos aneinander fügten. Dabei erinnerte er sich an Shoshana Ginzburg Handbewegung. Er halbierte das T und verschmolz es mit dem N. Das dritte A im Schriftzug steht mit einem Bein im kreisrunden G, wobei sich die Horizontalen überlagern. R, D und E berührten sich, so das sich schließlich zwei kompakte Buchstabenblöcke ergaben. Sie bildeten das unverwechselbare Avant-Garde-Logo.
Um Anzeigenkunden zu gewinnen, konzipierten Ginzburg und Lubalin eine Promo-Broschüre, in der alle Headlines in der Avant-Garde-Schrift gesetzt werden mussten – ausnahmslos Versalien. Lubalin verbrauchte drei Assistenten, um die 26 Buchstaben des Alphabets in Rekordzeit zu zeichnen. Dann schaltete sich sein Partner Tom Carnese ein, der früh erkannte, dass man ohne Buchstabenpaare kaum brauchbare Ergebnisse mit der geometrischen Schrift erzeugen könne. Mit jedem Wort, das sie zeichneten, entstanden neue Ligaturen. Irgendwann lagen genügend Zeichen vor, um das Heft fertig zu stellen: ja jetzt konnten sie sogar einen Fotosatz-Prototypen der Avant Garde bei Photo Lettering, Inc. in Auftrag geben.

Eines der bekanntesten Cover der Schriftgeschichte: Avant-Garde-Magazin Ausgabe 13 (1970), nachgebaut mit Avant Garde Book, Book Alt, Medium und Medium Alt von E+F; Foto: Image100

Trotz ihrer geringen Verbreitung sprach sich ab 1968 die Kunde einer neuen, avantgardistischen Schrift in New York herum wie ein Lauffeuer. Werber und Art-Direktoren waren heiß auf das Alphabet und wollten es ebenfalls für ihre Arbeit verwenden. Irgendwann konnte man sich bei Photo Lettering Headlines in Avant Garde setzen lassen, doch die Setzerei benutzte die Schrift ohne Genehmigung, sehr zum Unmut ihrer Entwerfer.
Um dem Schwarzmarkt das Wasser abzugraben, erstellte Tom Carnese einen Satz Schriftmusterkarten. Mit diesen bewarb er sein Büro Lubalin Smith Carnese als die einzige autorisierte Avant-Garde-Setzerei. Bald konnten sie sich vor Aufträgen kaum mehr retten.
Eine logische Folge war 1970 die Gründung der International Typeface Corporation (ITC) durch Herb Lubalin, Aaron Burns und Ed Rondthaler. Die revolutionäre Idee hinter ITC: eine Hardware-unabhängige Schriftbibliothek aufzubauen, die ihre Entwürfe an die Satzgeräte-Hersteller lizenziert. Bis dahin arbeiteten Monotype, Linotype und Co. mit proprietären Schriftentwürfen. Manchmal tauschten sie Lizenzen aus, manchmal wurde abgekupfert. ITC wollte ab sofort klare Verhältnisse beim Schutz des Urheberrechts für die Schriftentwerfer schaffen.
Die erste Belastungsprobe für ITC war die Schrift Avant Garde, die mit reichlich rechtlichem Gerangel auf den Markt kam. Herb Lubalin hatte zwar die Rechte für das Desig, doch Ralph Ginzburg war im Besitz die Marken- bzw. Namensrechte. Er stellte sie kostenlos zur Verfügung unter der Voraussetzung, dass der Schriftname stets mit einem Copyright-Zeichen ® gekennzeichnet sein solle. Lubalin und Burns ignorierte diese Forderung, was Ginzberg verärgerte. Er hatte aber keine finanziellen Mittel, um gegen den Warenzeichenmissbrauch zu klagen. Ganz im Gegenteil: er musste auch seine Zeitschrift bald einstellen, während die gleichnamige Schrift weltberühmt wurde.
»Ich glaube, mit der Schrift haben einige richtig Geld verdient, einschließlich Herb« vermutet Ralph Ginzberg heute. »Aber Carnese, der alle Originalzeichnungen für die Light-, Demi- und Bold-Schnitte herstellte, hatte überhaupt nichts davon. Das nehme ich denen übel. So behandelt man keine Partner.«
Vielleicht tröstete sich Carnese damit, dass kaum jemand in der Lage war, mit der nicht einfach zu bedienenden Schrift umzugehen. Viele beschäftigten sich nur oberflächlich mit den Ligaturen. Bei den Kleinbuchstaben berührten sich bei falscher benutzung das r und das n, so dass man unweigerlich ein m las. So ruinierten viele Avant-Garde-Benutzer ihr liebstes Kind selbst.
Übrigens veröffentlichte ITC nach der phänomenalen Premiere bald eine Serifen-Version der Avant Garde, entworfen von Toni Si Spigna. Ihr Name: Lubalin Graph.

Der Fanatismus für die neue Avant Garde, gepaart mit den Möglichkeiten des Fotosatzes, ließ bei manchen Art-Direktoren die Gäule durchgehen. DDB-AD Dieter Krone kreierte die Fox-Kampagne für Audi, mit Headlines und Lesetext aus Avantgarde. Form follows Technik: ausgestanzte und sich überlappende Buchstaben ... sogar der Claim war inspiriert vom Schriftmustertext »The Quick Brown Fox ...«.

Kaum eine Schrift gibt derart lupenrein einen Zeitgeist wider wie Avant Garde. Sie stammt aus der Zeit eines ungetrübten Technik-Glaubens: Die Menschheit bereitete sich gerade auf den ersten Mondbesuch vor. Die Zeitgebundenheit macht Avant Garde für heutige Kommunikationsaufgaben unbrauchbar, es sei den man gestaltet 70er-Jahre-Zitate.
Trotzdem ist sie eine sehr beliebte Schrift, gerade bei Laien. Vielleicht liegt es daran, dass ungeübte Augen angesichts ihrer extremen Formen zum ersten Mal realisieren, dass es verschiedene Schriften gibt. Und von da an heißt es: »Wenn’s wie designt aussehen soll, muss Avant Garde ran.«
Dabei ist die Schrift nichts für Anfänger. Ihr Einsatzgebiet ist klein, wie das der meisten konstruierten Groteskschriften. Die Idee, eine Schrift nicht vom Schreiben her wachsen zu lassen sondern zu konstruieren, stammt bereits aus den 1920er Jahren: Funktionalismus, »mechanisierte Graphik« (Paul Renner). Damals entstanden Futura, Erbar und Bernhard Gothic. Aber niemand wagte sich so weit weg von den Lesegewohnheiten wie Herb Lubalin.

Die essenziellen Avant-Garde-Ligaturen, wie sie heute wieder in der digitalen Version als Alternates (Hersteller: E+F) angeboten werden

Für die weite Verbreitung der Avant Garde im digitalen Zeitalter, das Ende der 1980er Jahre begann, sorgte die Seitenbeschreibungssprache PostScript. Die ersten PostScript-Drucker waren unter anderem mit Avant Garde bestückt. Und da es damals nur eine Handvoll Schriften gab, musste Avant Garde stets als »ausgefallene« Alternative herhalten.

Zitate zu Avant Garde:

Ed Benguiat: »Das einzige, wo Avant Garde gut aussieht, ist im Wort Avantgarde.«
Tony Di Spigna, Partner von Lubalin: »Die meist-missbrauchte Schrift der Welt.«
Alex W. White, Buchautor: »Eine Ansammlung derart extremer Formen erzeugt Müdigkeit in Textgrößen und lenkt alle Aufmerksamkeit auf sich, was bekanntermaßen die größte Sünde ist, die eine Schrift begehen kann.«
Steven Heller: »Das Paisley(-Muster) unter den Schriften.«
Stephen Coles, Typographica: »Mit dem Erscheinen der Alternates sind die Fluttore wieder geöffnet.«
Art Chantry, Designer: »Als Anfänger habe ich an Avant Garde gelernt, wie Typografie nicht funktioniert.«
Dieter Krone, Art-Director DDB: »Fotosatz mit Avant Garde bedeutete, das Buchstaben- und Zeilenabstände negative Werte annehme konnten. Und was möglich war, wurde gemacht.«
Fontblog: »Avant Garde ist keine Schrift, sondern ein Retortenprodukt. Wahre Schriften werden geboren, sie leben. Konstruierte Alphabete sind totes Typo-Material«.