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Wie bei jeder Schrift, ist auch das Aussehen der Myriad-Familie geprägt von den Werkzeugen ihrer Zeit. Im Jahre 1992 führte Adobe die atemberaubende Multiple-Master-Technik (MM) ein, für deren Fähigkeiten es keinen historischen Vorläufer in der Schriftgeschichte gab. Eine Multiple-Master-Schrift wird mit visuellen Achsen angelegt, zum Beispiel für die Strichstärke (weight), die Buchstabenbreite (width) oder die optische Größe. Über das aufgespannte zwei- oder dreidimensionale Koordinatensystem lassen sich Tausende von Schriftzuständen (= Schriftschnitte einer Familie) erstellen – ohne dass die Buchstabenformen durch Stauchungen oder Verzerrungen zerstört würden.

Zweiachsige (weight, width) Multiple-Master-Schrift Myriad; rot gekennzeichnet: der Grundschnitt

Eine erkleckliche Anzahl von Basisschnitten wurden von Hause aus mit jedem Multiple-Master-Font geliefert. Darüber hinaus konnten sich die Anwender beliebig viele Zwischenstufen auf einfach Weise selbst generieren. Im Editorial-Bereich war die Multiple-Master-Technik ein Segen, weil man mit ihr die Mikrotypografie perfekt abstimmen konnte: Überschriften und Text mit genau definierten Stärken, Headlines mit benutzerdefinierter Breite, oder Tabellenschriften, die perfekt in starre Raster passten (zum Beispiel bei Fernsehprogramm-Zeitschriften).
Doch die von Adobe entwickelte Technik setzte möglicherweise ein mikrotypografisches Feingefühl voraus, das manche Anwender überforderte. Nur so ist es zu erklären, dass Multiple-Master-Fonts heute keine Rolle mehr spielen. Da Adobe den für die MM-Erzeugung notwendigen Adobe Type Manager (ATM) nicht mehr weiter entwickelt, wird die Technik aussterben.
Carol Twombly und Robert Slimbach entwarfen Myriad 1992 von Anfang an als zweiachsige Multiple-Master-Schrift. Es war die erste Sans-Serif-Schrift unter den Adobe Originals. Wie ihre Verwandten Frutiger oder Syntax klassifiziert man sie als humanistische Sansserif, weil sie keinen gleich starken Strich aufweist (wie zum Beispiel Futura), sondern einen Strichstärkenkontast. Das Vorbild hierfür sind die Antiqua-Schriften: Myriad ist nicht geometrisch konstruiert; darüber hinaus überragen die Oberlängen der Gemeinen (l, h, f, ...) die Großbuchstaben – wie bei vielen Serifenschriften. Natürlich weisen auch Myriads Italic-Schnitte die klassischen Eigenschaften auf: geschlossenes a, f mit Unterlänge und von Hand abgestimmte Kursivformen statt Schrägstellung.

Typische Merkmale der humanistischen Sansserif Myriad: Strichstärken-Kontrast, Oberlänge höher als die Versalien, echte Kursive

Wenn man sich nicht der Multiple-Master-Version der Myriad bedienen möchte, stehen die Teilfamilien Myriad Condensed (6 Schnitte), Myriad Normal, Myriad Semi Extended und Myriad Extended zur Auswahl. Sonderformen sind die Trash-Fonts Myriad Tilt und Myriad Sketch.
Aufgrund ihrer Vielfalt ist Myriad die perfekte Schrift fürs Corporate Design, wo sie von der Visitenkarte bis zum Großflächenplakat funktioniert. Ungezählte Firmen und Institutionen haben sie sich als Hausschrift verordnet. Als vor zwei Jahren Apple auf Myriad umstieg, bescherte das der Schrift neue Popularität.
Auch im Verlagswesen und im Editorial-Bereich ist die Familie sehr beliebt: Im Kleinen löst sie alle typografischen Herausforderung, auf den Titelseiten und Schutzumschlägen vermittelt sie Seriosität und Charakter.
Als das Berliner Designunternehmen MetaDesign Anfang der 90er Jahre für den wissenschaftlichen Springer-Verlag ein umfangreiches Gestaltungskonzept erarbeitete, spielten die Myriad – zusammen mit ihrer »Schwester« Minion – die erste Geige. MetaDesign nutzte die Multiple-Master-Technik, um die Schriften fein aufeinander abzustimmen. Bis heute arbeitet der Verlag mit diesen individuell erstellten MM-Schnitten.

Eine von MetaDesign Anfang der 90er Jahre erstellte Myriad-Multiple-Master wird noch heute vom Springer Verlag für die Umschlaggestaltung eingesetzt

Myriad vs. Frutiger
Seit Erscheinen der Myriad gibt es Stimmen, die sie als Kopie der Frutiger bezeichnen. Dieser Argumentation können sich nur wenige Experten anschließen, einschließlich Adrian Frutiger selbst. Sicher sehen die Entwerfer ihre Schriften mit anderen Augen. Sie erkennen Unterschiede, die sich einem Laien beim besten Willen nicht erschließen. Darunter muss man genauso wenig leiden wie unter der Unfähigkeit, beim Hören einer unbekannten Sonate diese als Beethoven- oder Mozart-Komposition zu identifizieren.


Natürlich sind beide Schriften gleichen Ursprungs und sie zielen auf vergleichbare Anwendungsgebiete. Doch bei aller Ähnlichkeit legen ihre Entwerfer doch Wert darauf, ihrer eigenen Handschrift gefolgt zu sein. Adrian Frutiger hat mit seiner Schrift die Klasse der humanistischen Sansserif eigentlich erst begründet: auch wenn es zuvor Vergleichbares gab, so hat er dieser Idee zum Durchbruch verholfen. Myriad reiht sich in diese typografische Klasse ein, man sieht ihr aber auch an, dass sie 20 Jahre später entstand.


Myriad Pro
Seit Einführung der OpenType-Standards ist die Schrift Myriad in diesem Format lieferbar. Sie war eine der ersten OpenType-Pro-Schriften, womit Adobe (und inzwischen andere Hersteller gleichermaßen) kennzeichnet, dass ihre Fonts OT-Features mitbringen, zum Beispiel typografische Automatiken und Fremdsprachen-Unterstützung. Im OpenType-Format bietet Adobe die Myriad als 4 Teilfamilien an: Myriad Pro (PDF mit allen Figuren und Schnitten), Myriad Pro Condensed (PDF mit allen Figuren und Schnitten), Myriad Pro Semi Condensed (PDF mit allen Figuren und Schnitten) und Myriad Pro Semi Extended (PDF mit allen Figuren und Schnitten). Insgesamt sind dies 40 OpenType-Fonts, die umgerechnet rund 200 bis 300 PostScript-Schriften entsprechen, denn die OpenType-Fonts enthalten nicht nur jede Menge Expert-Zeichen und Ziffern-Sätze, sondern auch alle griechischen und kyrillischen Buchstaben.